Andreas Müller, Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer der soda group
Die soda group ist ein Beratungs- und Planungsbüro mit Schwerpunkt im international geprägten Food- und Hospitality-Markt. Die Agentur hat tiefe Kenntnis der Szene und beste Referenzen. Handelsgastronomie ist in den letzten Jahren zum Frequenzbringer geworden. Warum?
Der Händler ist Gastgeber für seine Kunden, mit Gastronomie möchte er sein Geschäft aufwerten. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Irgendwann hatten alle Retailer mindestens eine Kaffeemaschine, um den Kunden außerhalb der Produktpalette etwas anbieten zu können. Die begleitenden Personen, die nicht einkaufen wollen, sind damit versorgt oder besser: umsorgt. Das dehnt sich mittlerweile auf viele Bereiche außerhalb der Einkaufsstraßen aus, wie z.B. Bahnhöfe oder Flughäfen. Der Heilsbringer ist die Gastronomie aber nicht. Das wird häufig übersehen, wenn eben genug Frequenz da ist. Handelsgastronomie wie überhaupt die ganze Gastronomiebranche ist ein Geschäft für Profis. Es geht um Attraktivität und Aufenthaltsqualität. Wenn beides fehlt, wird das kein dauerhafter Erfolg werden.
Wo in Städten Läden schließen, öffnen oft gastronomische Betriebe. Ist das keine gute Idee?
Es mag sein, dass es Konzepte gibt, die kurzfristig Erfolg versprechen. Wir sitzen in Bochum, ein Beispiel ist das sogenannte Bermudadreieck hier. Ein ehemaliges Rotlichtviertel wurde mit Retail und Gastronomie neu ausgerichtet, was zunächst auf viel Resonanz stieß, die Frequenz war hoch. Der Retail verzahnt sich aber, das zeigt sich jetzt, nicht mit der Gastronomieszene. Der Retail bröckelt, in der Gastroszene macht so ungefähr jeder das gleiche. Die Folge ist, dass die Attraktivität des Viertels sinkt. Was gut anfing, wurde nicht kontinuierlich für die Besucher weiter entwickelt mit neuen Ideen und neuen Konzepten.
Als Architekt und Stadtentwickler schaue ich auf den Gesamtmix. Viele Innenstädte sind immer noch Arbeits- und Shopping-Destinationen, garniert mit Gastronomie. Es fehlt ihnen das Leben außerhalb der Arbeits- und Öffnungszeiten, sie sind abends menschenleer. Wie sollen Restaurants oder Kneipen in diesen Lagen existieren?
Es müssen wieder Menschen in den Städten leben (wollen), nicht nur in den Vorstädten. Manche Stadtviertel in Großstädten machen das bereits vor. Hier gibt es ein urbanes Leben mit allem, was man braucht, also „ums Eck“. Die Hafencity in Hamburg ist ein Projekt mit diesem Anspruch. Das Ziel ist noch nicht erreicht, sie hat sich aber bislang sehr gut entwickelt. Wohnen, Arbeiten, Essen-gehen, Kultur- und Freizeitangebote: All das wird geboten. Es entsteht eine Welt, die dem Leben der Menschen dort angeglichen ist. Die Gastronomie ist davon wesentlicher Bestandteil als Treffpunkt. Früher hatte jedes Dorf auf jeden Fall drei Elemente: Einen Dorf- bzw. Marktplatz, die Kirche und das Gasthaus. Darum kreiste das Leben der Bewohner, das war nicht der schlechteste Ort für Begegnungen.
Hinzu kommt, dass wir den Objekten eine einzige Bestimmung gegeben haben. Das engt ein, wie man am Beispiel des Hotels sieht. Früher ging man durchaus ins Hotel zum Essen oder trank nachmittags einen Kaffee mit Kuchen dazu, es gab dort vielleicht sogar Bälle. Heute hat ein Hotel die Bestimmung, Übernachtungsstätte zu sein. Keiner kommt auf die Idee, ins Hotel zu gehen, nur um zu essen. Früher waren Hotels vielfältiger. Oder denken Sie an das Kadewe, das in erster Linie ein Warenhaus ist. Viele besuchen das Kadewe aber wegen der Gastronomie, andere, weil sie Touristen sind und von der Historie gehört haben. Solche Orte sind wunderbare und auch demokratische Begegnungsstätten, weil sich jeder aussuchen kann, was er dort finden will.
Raten Sie auch mal einem Händler davon ab, einen gastronomischen Bereich einzurichten?
Generell nicht, aber klar ist auch, dass er das nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Er muss nicht selbst Vollblutgastronom sein, aber einen solchen im Team haben. Er muss daran denken, dass er gutes Personal braucht und dafür Kosten entstehen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber in der Praxis gern übersehen wird. Er muss das auch organisatorisch können und Retail und Gastronomie ganzheitlich betrachten. Diese sollte kein Anhängsel sein. Er muss dafür eine gute Fläche bereitstellen, bevorzugt im Erdgeschoss. Der Gastrobereich im Handel darf nicht versteckt werden, wie man das früher oft erlebt hat. Dafür muss unter Umständen Ware weichen. Der beste Platz im Laden sollte der Begegnung gehören.
Das ist ein guter Punkt. Warum lehrt uns die Praxis etwas anderes?
Weil mit der Immobilie bzw. dem Geschäft Geld verdient werden muss. Das ist zunächst einleuchtend und führt dazu, dass jede freie Fläche genutzt werden soll, um etwas zu verkaufen. Ruhezonen, in denen weder gekauft noch konsumiert werden muss, sind deswegen rar. Dass man aber auch mal einen langen Atem haben muss, zeigt das Bikini in Berlin, innen mit Blick in den Zoologischen Garten, mit viel Aufenthaltsflächen und einer Rooftop-Bar im 25hours-Hotel, die zu den frequentiertesten Bars in Berlin gehört. Wie oft wurde das Bikini totgesagt? Zumindest die vielfältige Gastronomie mit Kino, Hotel und Bar funktioniert.
Wie gestaltet man Räume mit Aufenthaltsqualität?
Die Zutaten werden immer wieder neu gemischt, neu interpretiert. Die Zonierung im Innen- und Außenbereich muss gesund sein. Es muss belebte und ruhige Bereiche geben, man muss sich in Gruppen treffen können. Diesen unterschiedlichen Bedürfnissen einen Ort zu geben ist wichtiger als die Gestaltung. Für mich ein Beispiel für zeitlose Gestaltung ist das Borchardt in Berlin. Es ist einer französischen Brasserie nachempfunden und ist in Würde gealtert. Das ist die große Stärke der zeitlosen Restaurants und Cafés, sie bekommen dadurch eine Wertigkeit, die der Besucher sofort spürt. Übrigens sind in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich die Gemeinden sehr bemüht, die Außengastronomie zu genehmigen. Das könnte in Deutschland besser laufen.
Was ist Ihr Lieblingsplatz?
Ich sehne mich wie wohl viele nach einem Stammlokal, wo ich morgens meinen guten Kaffee trinken, tagsüber mal reinschauen und abends noch etwas Gutes essen kann. Das ist ein unaufgeregter, alltäglicher, anfassbarer Ort, ein Lieblingsplatz eben. Ich finde auf Reisen immer noch solche Lokale, in die ich täglich ginge, wenn ich da wohnen würde. Zumindest würde ich es mir vornehmen. Wir alle haben die Sehnsucht nach solchen Orten und freuen uns sehr, wenn wir sie finden.
Erschienen im STORE BOOK 2023. Hier bestellen.
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