Raum für Menschen, nicht für Produkte

Marc Ramelow, Inhaber und Geschäftsführer von Gustav Ramelow KG

Wer nach Beispielen für Wagemut und Innovationskraft im Handel sucht, sollte auch Orte jenseits der großen Weltmetropolen in den Blick nehmen. Gerade kleine Traditionshäuser in Deutschland zeigen auf beeindruckende Weise, wie man trotz des Drucks durch den Online-Handel die Vorzüge einer stationären Präsenz ausspielen und sich dabei neu erfinden kann. Dieses Kapitel präsentiert Händler, die der Branche auf eigene Weise Impulse geben und Großes wagen, ob in Wien, Laufenburg oder Ettlingen. Deshalb ist Marc Ramelow in diesen Tagen ein gefragter Mann. Denn er betreibt im Norden Deutschlands mehrere Modehäuser und hat nun im anhaltinischen Stendal fast so etwas wie ein Wunder vollbracht. Mit dem Modehaus Ramelow setzt er den allfälligen Nachrufen auf die Innenstadt einen kraftvollen Wiederbelebungsversuch entgegen.

Die Corona-Pandemie, eine kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz und Modehandel: So lautet normalerweise die Kurzformel der Branchenkrise. Sie haben mit diesen Koordinaten Ihren Standort in Stendal revitalisiert. Warum?

Das Haus in Stendal ist ein Traditionsstandort unseres Unternehmens und besteht schon seit 1930. Nach dem Ende der DDR haben wir den Betrieb wieder übernommen und 1991 wiedereröffnet. Dann folgte eine harte Zeit. Und auch wenn die blühenden Landschaften lange auf sich warten ließen, haben wir an dem Standort festgehalten. Vor gut zehn Jahren, also um 2010, hat sich eine Trendwende vollzogen: die Kaufkraft ist gestiegen, die Einwohnerzahl stabilisiert sich und die Stadt selbst hat sich im Vergleich zu anderen umliegenden Mittelzentren sehr gut entwickelt. Davon haben wir profitiert.

Welche Faktoren waren für die Transformation des Modehauses maßgeblich?

Wir hatten aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage die Verkaufsfläche in unserem denkmal- geschützten Gebäude um eine Etage verkleinert und das Geschäft auf rund 2.000 Quadratmetern betrieben. Es gab also räumliche Reserven. Aufgrund der positiven Entwicklung des zurückliegenden Jahrzehnts lag es auf der Hand, die Fläche neu anzupassen. Baubeginn für die Erweiterungsmaßnahmen war der 1. März 2020, genau zwei Wochen vor dem Corona-Lockdown.

Sie machen es spannend...

Wir standen natürlich vor der Frage: Baustopp oder Weitermachen? Nach einem kurzen Innehalten stand aber der Entschluss fest. Wir machen weiter. Denn wir glauben an diesen Standort und sind überzeugt, dass es auch nach dem Ende der Pandemie genug Bedarf an guten stationären Konzepten geben wird. Letztendlich hat uns diese Corona-Situation in die Lage versetzt, mutiger zu sein und Ideen konsequenter umzusetzen, die sowohl für uns als auch für die Branche wirklich neu sind.

Was für Ideen sind das?

Normalerweise lässt man sich bei der Konzeption eines Modehauses von der Frage leiten: Wie sehen die einzelnen Abteilungen für Hosen, für Kindermode, für Anzüge oder Damenpullover aus? Es ist eine rein produktorientierte Perspektive. Und diese Sichtweise haben wir für den Umbau in Stendal über den Haufen geworfen und stattdessen gefragt: Warum kommen Menschen angesichts der viel größeren Auswahl im Online-Handel überhaupt noch zu uns? Knapp formuliert, wollen wir Raum für Menschen schaffen, nicht für Produkte.

Wie haben sich diese Überlegungen auf die Konzeption der Flächen ausgewirkt?

Da wären zunächst die neuen Umkleidekabinen. Die Möglichkeit, Sachen anzuprobieren, ist ein genuin stationärer Vorteil. Doch eine Umkleidekabine konkurriert immer mit dem Ort, an dem ein Kunde zuhause neue Sachen anprobiert, und das ist meistens das Schlafzimmer. Nun konkurrieren sie mal als Kaufhaus mit dem Schlafzimmer einer Kundin! Wir haben jetzt sehr großzügige Umkleidekabinen. In der Damenabteilung gibt es sogar zwei Kabinenanlagen mit einem privaten Vorraum. Kunden können diese Kabinen online für ein sogenanntes „Private Shopping“ reservieren und dort sogar eine kleine Party feiern. Außerdem haben wir diverse Lounge Areas auf allen Ebenen eingerichtet, wo Kunden bei einem Kaffee ihre Smartphones aufladen können. Neben diesen Bequemzonen gibt es auf jeder Etage eine etwa vier Meter lange Holztafel, den sogenannten Community-Tisch. Eigentlich geplant für Workshops über Produkte, sitzen dort jetzt tagsüber Leute mit Laptops und arbeiten. Wir sind als Kaufhaus jetzt quasi auch Soft-Co-Working-Space. Wunderbar.

Erschienen im STORE BOOK 2021. Hier bestellen.

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